Das Urteil
Ein Urteil des Amtsgerichts - Jugendgericht - Würzburg vom 23. Oktober 2019 hat für großes Aufsehen, Empörung und erstaunliche Schlagzeilen gesorgt. Das Gericht verurteilte einen 20-jährigen Heranwachsenden wegen fahrlässigen Vollrauschs zu einer Geldstrafe, deren Summe 5000 Euro beträgt. Wie viele Tagessätze ihr zugrunde liegen, wurde wie üblich nicht berichtet, obwohl es nur darauf ankommt. Für jemanden, der 30.000 Euro netto im Monat verdient, wären es fünf Tagessätze, für jemanden, der 415 Euro im Monat netto übrig hat, 360 Tagessätze. Den Unterschied merkt man, wenn man nicht zahlt: Dann müsste der Erste fünf Tage ins Gefängnis, der Zweite ein Jahr. In der Presse wird regelmäßig nur das Produkt aus Tagessatzzahl und Tagessatzhöhe (= Monatseinkommen durch 30) mitgeteilt, obwohl das sinnlos ist.
Dem Urteil lag eine Tat vom 23. April 2017 zugrunde. Der Angeklagte, damals 18 Jahre alt und Fahranfänger, fuhr nachts auf einer Nebenstraße mit seinem Auto nach Hause. Er hatte eine Blutalkoholkonzentration von fast 2,9 Promille; drei weitere junge Männer, ebenfalls alkoholisiert, saßen mit ihm im Auto. Aufgrund seiner Alkoholisierung übersah der Angeklagte zwei am Straßenrand gehende Fußgänger und fuhr eine 20-jährige junge Frau an. Sie starb wenige Tage später an ihren schweren Verletzungen.
Die "Bild" nennt das Opfer "totgeraste Teresia", lässt also dem Leser schon im Ansatz das übliche "Feeling" zukommen, indem Empathie und Nähe vorgetäuscht wird. Das Opfer wird beim Vornamen genannt, als ob die "Bild"-Leser ein Recht darauf hätten, sich der jungen Frau aufzudrängen. Die Tat heißt "Totrasen", obwohl es für das Ereignis ganz unerheblich ist, ob der Täter "gerast" oder langsam gefahren ist. Das entspricht dem üblichen populären Umgang mit den Gefahren des Straßenverkehrs: Wer schnell fährt und Glück hat, fährt "sportlich", wer schnell fährt und Pech hat, heißt "Raser". Die "Raser" gehören weggesperrt; aber das sind immer nur die anderen.
Die Überschrift des "Bild"-Artikels vom 23. Oktober lautete übrigens: "Wer soll dieses Urteil verstehen?" Wer den Artikel liest, der hier nur stellvertretend für viele andere genannt ist, "versteht" das Urteil auf gar keinen Fall; daran ändert auch der "Verkehrsexperte" nichts, den "Bild" bemüht. Dem Leser werden hier wie anderswo schon die einfachsten Grundlagen der Rechtsfragen entweder verschwiegen oder so verdreht mitgeteilt, dass der Informationsgehalt sich auf bloße Anstachelung von Empörung beschränkt. An diesem Schmierentheater hatte, wie es zu befürchten gilt, das Gericht jedenfalls insoweit einen Anteil, als es sich mit den merkwürdigsten Äußerungen zur mündlichen Urteilsbegründung zitieren lässt:
Zitat"Bild": "Die überraschende Erkenntnis von Richter Krieger: 'Wir hätten gern eine Jugendstrafe verhängt.' Aber das sei nicht möglich gewesen, da der Angeklagte schuldunfähig sei - wegen des hohen Promillewerts. Im Klartext: Niclas H. ist frei, weil er total besoffen war!"
Oder so: "Focus": "Richter kann Vater von Teresa (+20) kaum ansehen. Richter Krieger: 'Es fällt mir schwer, Ihnen in die Augen zu gucken.'"
Oder beim Bayerischen Rundfunk: "Richter: 'Das Urteil ergeht im Namen des Volkes. Aber das Volk muss schon ein paar Semester Jura studieren, um das zu verstehen, was ich heute geurteilt habe.'"
Gehen wir einmal davon aus, dass der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts ("Wir") genügend lange studiert hat, um zu verstehen, was er (oder sagen wir, unter Erinnerung an das Beratungsgeheimnis: die Mehrheit des Gerichts) geurteilt hat. Wenn Richter es schaffen, ihre eigenen Urteile verstanden zu haben, sollten sie so freundlich sein, sie dem Volk so zu erklären, dass es bei gutem Willen möglich ist, die Rechtslage zu erkennen. Wer es darauf anlegt, sich als "volksnah" aufzuplustern und zu behaupten, dem von ihm selbst soeben angewendeten Recht fehle es an verfassungsgemäßer Legitimität, dem schreibt Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes ohne Wenn und Aber vor, was er zu tun hat: Das Verfahren aussetzen und die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Entweder - oder: Man kann nicht der Held der Strafprozessordnung und der "Bild"-Zeitung zugleich sein.
Ein paar Korrekturen
Aus der BR-Berichterstattung:
"Der Richter begründete das Urteil mit dem 'pubertären männlichen Verhalten', das den Tod der 20-Jährigen zur Folge hatte. Zudem sei der Hauptangeklagte schuldunfähig, da ihm keine 'Neigungen' attestiert werden konnten und er zum Tatzeitpunkt stark alkoholisiert war. Vor Gericht gab der junge Mann an, sich nicht an den Unfall erinnern zu können. Die Staatsanwaltschaft hatte zweieinhalb Jahre Freiheitsstrafe nach Erwachsenenstrafrecht für den 20-Jährigen gefordert. Das Urteil wurde jedoch nach Jugendstrafrecht erlassen, da der Hauptangeklagte zum Tatzeitpunkt 18 Jahre alt war."
Obwohl die einzelnen Worte dieses Berichts nicht falsch sind und der deutschen Sprache entstammen, ergeben sie in ihrem Zusammenhang fast keinen Sinn und sind auf Wirrnis angelegt. Selbst der oben zitierte Richter dürfte nicht "das Urteil mit dem pubertären Verhalten begründet" haben. Richtig mag sein, dass der Angeklagte ein solches Verhalten zeigte; das weiß man nicht. Man wird aber nicht wegen pubertären Verhaltens bestraft, sondern wegen der Begehung von Straftaten. Ob diese Ausdruck von "pubertärem Verhalten" sind, ist für die Strafbarkeit nur eingeschränkt und unter bestimmten Voraussetzungen von Bedeutung.
Die Staatsanwaltschaft hatte eine Freiheitsstrafe nach Erwachsenenrecht beantragt. Das Jugendgericht verhängte "jedoch", so der BR, eine Strafe nach Jugendrecht, "da der Hauptangeklagte zum Tatzeitpunkt 18 Jahre alt war." Das ist schräg. Die Staatsanwaltschaft weiß, dass es für die Anwendbarkeit von Jugend- oder Erwachsenenrecht auf das Alter des Beschuldigten zum Tatzeitpunkt ankommt. Daher liegt die Begründung, Jugendstrafrecht sei angewendet worden, "weil" der Angeklagte zur Tatzeit 18 war, neben der Sache. Richtig ist, dass bei Personen zwischen 14 und 17 (sogenannten Jugendlichen) immer Jugendrecht anzuwenden ist, bei Personen ab 21 immer Erwachsenenrecht. Im Zwischenbereich von 18 bis 20 heißen die Personen "Heranwachsende". Hier kommt es darauf an, ob der Täter (zur Tatzeit) "noch einem Jugendlichen gleichzustellen ist". Es kommt also auf den Grad der Entwicklung, Reife, Verantwortungsentwicklung, Selbstständigkeit an: Es gibt 19-jährige, die den Entwicklungsstand eines 14-Jährigen aufweisen, und 18-Jährige, die ein in jeder Hinsicht selbstständiges Leben führen (können). Es kommt bei der Entscheidung aber auch auf die Art der Straftat an: Ein komplizierter Betrug eines 19-Jährigen wird selten "jugendtypisch" sein, eine Schlägerei beim Fußball ziemlich oft.
Die Gerichte neigen dazu, die Anwendung von Jugendrecht recht großzügig zu bejahen. Das mag daran liegen, dass für die Entscheidung die Jugendgerichte zuständig sind, die aufgrund der speziellen Materie oft einer pädagogisch-psychologischen Betrachtung der Dinge näher stehen als Erwachsenengerichte.
Missverständlich ist die Erwähnung, es sei der "Hauptangeklagte" gewesen, der zur Tatzeit erst 18 Jahre alt war. Das ist völlig unerheblich: Jeder Beschuldigte/Angeklagte wird natürlich nach seinen eigenen Voraussetzungen beurteilt. Wenn wegen ein und derselben gemeinsamen Tat ein Jugendlicher und ein Erwachsener angeklagt sind, wird gegen den einen Jugendrecht, gegen den anderen Erwachsenenrecht angewendet. Den Begriff "Hauptangeklagter" gibt es im Strafprozess überhaupt nicht.
Die "schädlichen Neigungen" haben mit der "Schuldunfähigkeit" nichts zu tun; die Begründung ist vermutlich falsch zitiert, auf jeden Fall Unsinn. "Schädliche Neigungen" sind eine von zwei (alternativen oder kumulativen) Voraussetzungen für die Verhängung von Jugendstrafe (also Freiheitsstrafe gegen Jugendliche). Das Jugendstrafrecht steht unter dem Oberbegriff des "Erziehungsgedankens": Man will durch andere Maßnahmen (Auflagen, Weisungen, Arrest, Geldstrafe) möglichst die Verhängung der (oft eher schädlichen) Jugendstrafe vermeiden. Wenn aber entweder "die Schwere der Schuld" oder "schädliche Neigungen" bejaht werden müssen, ist Jugendstrafe zu verhängen. "Schwere der Schuld" liegt zum Beispiel bei massiven Gewalttaten oder bei vorsätzlichen Taten mit hohem Schaden nahe. "Schädliche Neigungen" sind, was man auch als "Tendenz zur sozialen Verwahrlosung", Neigung zur Wiederholung, Fehlen von moralischen Strukturen und so weiter beschreiben kann. Bei Spontantaten, "Ausrutschern", Taten unter Berauschung oder in emotionalem Stress liegen schädliche Neigungen nicht nahe.
Es kann sein, dass das Amtsgericht einen Rechtsfehler gemacht hat; das kann man aufgrund der Presseberichte aber nicht beurteilen. Die zitierten mündlichen Begründungen waren teilweise ungewöhnlich und wirr. Sollte der Vorsitzende tatsächlich das Gesetz als solches und die Rechtsordnung herabgewürdigt haben, um sich selbst als Sprachrohr "des Volkes" und des gesunden Rechtsempfindens in die Empörung gegen sein eigenes Urteil einzureihen, wäre das eine peinliche Aufführung.
Es ist wie fast immer: Das Unrecht wird durch bloße Empörung nicht größer und das Unglück nicht kleiner. Man muss sich mit den Dingen ernsthaft befassen und die Zusammenhänge der Regeln zu verstehen versuchen, nach denen man im Ernstfall selbst behandelt werden möchte. Gesetzgeber und Gerichte machen Fehler, aber sie sind nicht von vornherein blöd, ungerecht oder volksfern.
Anmerkung: In einer früheren Version hieß es, dass in der Presse regelmäßig nur die Summe aus Tagessatzzahl und Tagessatzhöhe mitgeteilt werde. Tatsächlich ist das Produkt gemeint. Die entsprechende Stelle wurde korrigiert.
Alkohol und Schuld
An dieser Stelle muss man einen Blick auf die "Schuldfähigkeit" (auch genannt: "Unzurechnungsfähigkeit") und auf ihren Zusammenhang mit Zuständen der Berauschung werfen. Die Sache ist komplizierter, als die meisten annehmen, und sie wird in Presseberichten über Strafverfahren fast immer falsch oder missverständlich dargestellt.
Der Grundsatz ist nicht schwierig. § 20 StGB lautet:
Schuldunfähigkeit: Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tief greifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
Und § 21 lautet:
Verminderte Schuldfähigkeit: Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe gemildert werden. gemildert werden.
Das klingt übersichtlich und auch gerecht. Wir haben uns in Europa seit tausend Jahren angewöhnt, "Wahnsinnige" für "nicht verantwortlich", also für "nicht schuldig" zu halten. Sie können gefährlich sein, tragen aber keine (vorwerfbare) "Schuld", weil (und wenn) sie "unfähig sind, das Unrecht ihres Tuns einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln" (§ 20). Sie werden dann vielleicht "untergebracht", wenn und solange sie gefährlich sind, aber nicht "bestraft". Ein solcher Zustand kann auf verschiedenen Ursachen beruhen, die § 20 aufzählt. Die Berauschung (mit Alkohol, Drogen, Medikamenten) fällt unter den Begriff der (vorübergehenden) "krankhaften seelischen Störung" oder den der "tief greifenden Bewusstseinsstörung". (Fast) jeder Mensch in Europa weiß, dass unter Einfluss von Alkohol zunächst das Hemmungsvermögen ("Fähigkeit, nach der vorhandenen Einsicht zu handeln"; § 20) und dann auch das Einsichtsvermögen (Fähigkeit zu erkennen, dass man Unrecht tut) sukzessive nachlassen. Jeder weiß auch, dass nach Genuss von genügender Menge Alkohol die Streitlust und die Risikobereitschaft steigen, die Hemmungen sinken. Daher ist es sehr selten, dass jemand von dieser Erfahrung "überrascht" wird. Es kann aber vorkommen, etwa wenn Jugendliche erste Räusche erleben oder Personen heimtückisch in schwere Räusche versetzt werden.
Natürlich ist "Schuldfähigkeit" kein Zustand wie Elektrizität/Spannung; es gibt also keinen Schalter "Ja / Nein". Die Übergänge sind fließend. Für das Recht, insbesondere das Strafrecht, sind klare Grenzen wichtig: Die Frage nach Schuld oder Unschuld kann nicht offen bleiben. Bei der Alkoholisierung wird sehr oft mit Promillewerten des im Blut gelösten Alkohols hantiert. Das ist den meisten vertraut, weil das Ordnungswidrigkeiten-Recht insoweit mit festen quantitativen Grenzen arbeitet: 0,5 Promille, 0,8 Promille. Wenn die überschritten sind, ist Geldbuße fällig, auch wenn der Fahrzeugführer noch so "fit" war.
Im Strafrecht ist das aber anders: Hier gibt es keine gesetzlichen Promillegrenzen, sondern es geht um tatsächliche "Zustände". Hinzu kommt, dass die Alkoholisierung einerseits im Grundsatz eine schuldmindernde Wirkung (wegen §§ 20, 21 StGB) hat, andererseits aber aufgrund ihrer allgemeinen und allgemein bekannten Gefährlichkeit eigenes Unrecht begründen kann: "Trunkenheit im Verkehr" (§ 316 StGB) ist eine Straftat (keine OWi), selbst wenn gar nichts passiert. Auch da geht die Rechtsprechung, obwohl das gar nicht im Gesetz steht, aus Vereinfachungsgründen von einer Grenze aus, die sie "absolute Fahruntüchtigkeit" nennt: 1,1 Promille. "Absolut" bedeutet hier: regelmäßig, ausnahmslos, unabhängig von konkreten Gefährdungen oder Fehlern. Alles, was darunter liegt oder was andere Drogen betrifft, bei denen es keine Grenzwerte gibt, heißt "relative Fahruntüchtigkeit". Sie ist genauso strafbar. Der Unterschied liegt nur in der Art der Feststellung: Für "relative" braucht man neben dem Alkohol ein Indiz (Fahrfehler), für "absolute" nicht.
Bei der Schuldfähigkeit ist alles noch mal anders: Da gibt es überhaupt keine festen Grenzen. Früher dachte man, mit 3,0 Promille sei man "schuldunfähig", ab 2,0 Promille "eingeschränkt schuldfähig". Solche Schematisierungen sind in der Sache Unsinn und werden heute auch nicht mehr vertreten. Sondern es kommt auf den Einzelfall an: Verfassung des Täters, Alkoholerfahrung, Gewöhnung, Tatart, Umstände der Tat. Wer auf hohen Fenstersimsen balancieren oder komplizierte Täuschungen ausführen kann und jeden Tag eine Flasche Wodka säuft, wird vermutlich auch bei 2,8 Promille nicht "schuldunfähig sein". Eine trinkungewohnte Rentnerin kann mit 2,0 Promille beim Diebstahl von Eierlikör jenseits von Gut und Böse sein.
Zu allen Problemen, die schon diese Abgrenzungen verursachen, kommt noch eines hinzu: Der Gesetzgeber weiß sehr genau, dass Saufen gefährlich ist. Er hat deshalb schon vor langer Zeit einen Tatbestand ins StGB eingefügt, der "Vollrausch" heißt (§ 323a StGB). Er ist ziemlich kompliziert:
(1) Vollrausch: Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen Rausch versetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn er in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begeht und ihretwegen nicht bestraft werden kann, weil er infolge des Rauschs schuldunfähig war oder weil dies nicht auszuschließen ist.
(2) Die Strafe darf nicht schwerer sein als die Strafe, die für die im Rausch begangene Tat angedroht ist.
Wenn Sie den Text aufmerksam lesen, bemerken Sie, dass die "Tat", also das bestrafte Unrecht, hier das Sich-Berauschen ist. Nicht jedes Berauschen ist aber strafwürdig: So lange Sie es friedlich und ohne weitere Folgen betreiben, werden Sie nicht bestraft. Das gilt auch dann, wenn sie "volltrunken" sind.
Anders wird es aber, wenn jemand sich volllaufen lässt und dann eine Straftat begeht. Dann gelten hinsichtlich dieser Straftat wie üblich § 20, § 21. Sollte der Täter also "schuldunfähig" sein, handelt er "ohne Schuld" (§ 20) und kann nicht bestraft werden. In diesem Fall greift aber § 323a StGB ein: Der Täter wird dann "wegen Vollrausch" bestraft (siehe das Urteil des AG Würzburg). Dieser Tatbestand hat ein eigenes Unrecht und einen eigenen Strafrahmen, der durch Absatz 2 eingeschränkt ist: Wer also im "Vollrausch" einen (vorsätzlichen) Mord begeht, wird mit höchstens fünf Jahren bestraft. Wer eine Beleidigung begeht, mit höchstens einem Jahr (weil das die Höchststrafe des § 185 ist).
Die Schuld, die § 323a bestraft, ist also nicht diejenige der Rauschtat, sondern die des "gefährlichen Sich-Berauschens". Die (schuldunfähig begangene) Rauschtat ist nur ein Indiz für die Gefährlichkeit des Rausches. Sie ist deshalb auch kein "Tatbestandsmerkmal", auf das sich der Vorsatz oder die Fahrlässigkeit beziehen müssen. Sondern sie heißt "objektive Bedingung der Strafbarkeit". Das heißt: Sie ist Voraussetzung der Bestrafung, aber nicht Teil des Unrechtstatbestands. Der Vorsatz oder die Fahrlässigkeit des § 323a StGB ist der / die des Berauschens, nicht die der Rauschtat. Das ist für Laien sehr schwer zu verstehen, aber nicht "falsch" und auch nicht per se "ungerecht". Allerdings ist es unter Gesichtspunkten des verfassungsrechtlichen "Schuldprinzips" auch nicht unumstritten.
Das gilt erst recht für eine Figur, die überhaupt nicht im Gesetz steht, aber von der Rechtsprechung und Wissenschaft zur Erfassung von strafwürdigen Fällen entwickelt wurde: Wer sich vorsätzlich "schuldunfähig" macht mit dem Ziel, dann in diesem Zustand eine Tat zu begehen, der verdient überhaupt keine Milderung: Er wird dann wegen der "Rauschtat" bestraft, als ob er voll schuldfähig gewesen wäre. Die Figur heißt "actio libera in causa" (Handlung, deren Ursache frei gesetzt wurde), wird nach vorsätzlicher (für Vorsatzdelikte) und fahrlässiger (für Fahrlässigkeitsdelikte) Begehung unterschieden und ist in der Wissenschaft umstritten. Für den Fall des AG Würzburg spielte sie nach den Feststellungen des Gerichts keine Rolle.
Die Folgen des § 323a StGB sind diese: Wenn man sich vorsätzlich (voll)berauscht (kommt vor; siehe "Komasaufen"), kann man wegen vorsätzlichen Vollrauschs für Vorsatzrauschtaten bestraft werden, zu denen man sich erst in volltrunkenem Zustand entschließt. Wer sich fahrlässig schuldunfähig berauscht, kann wegen fahrlässigen Vollrauschs bestraft werden, wenn er eine in nüchternem Zustand nicht vorhersehbare Tat begeht.
Bei dem Angeklagten in Würzburg war die "Rauschtat" eine fahrlässige Tötung (§ 222 StGB), denn er hat ja die junge Frau nicht absichtlich oder gezielt überfahren, sondern "aus Versehen". Viele Menschen meinen zwar, die Tötung eines Menschen im Straßenverkehr solle immer als "Mord" oder "Totschlag" angesehen werden. Das meinen sie allerdings nur so lange, bis sie selbst einen Moment nicht aufpassen und jemanden töten oder verletzen. Dann verstehen sie, dass zwischen einer Unaufmerksamkeit und einem absichtlichen Schwerverbrechen ein sehr großer tatsächlicher und moralischer Unterschied besteht. Es ist das Wesen der Fahrlässigkeit, dass kleine, ganz alltägliche Fehler hier aufgrund zufälliger Verkettung von Umständen zu schrecklichen Folgen können: Einmal von tausend Fällen hat ein Handwerker vergessen, eine Sicherung zu prüfen, und zehn Menschen sterben. Einmal ist dem Autofahrer eine Fliege ins Auge geraten, und er überfährt einen Radfahrer. Der Täter wird seines Lebens nicht mehr froh, wie die Angehörigen der Opfer. Ihn als "Mörder" lebenslang einzusperren, wäre ungerecht.
Beim Betrunken-Autofahren ist das natürlich anders: Jeder weiß, dass es höchst gefährlich ist. Wenn ein Täter so betrunken ist, dass er selbst das nicht mehr weiß (kommt vor; es gibt Menschen, die mit 4,2 Promille aus dem Auto gehoben werden müssen), begeht mindestens einen fahrlässigen Vollrausch (§ 323a). Deshalb ist es Unsinn, wenn, wie berichtet wird, der Jugendrichter in Würzburg geäußert haben sollte, eine Jugendstrafe wegen "Schwere der Schuld" komme nicht in Betracht, weil der Angeklagte ja schuldunfähig gewesen sei. Denn es geht ja, wie Sie jetzt wissen, um die Schuld des Vollrauschs (nicht der fahrlässigen Tötung), und die kann selbstverständlich "schwer" sein. Anders wäre es nur, wenn der Täter schon bei Beginn des Sich-Berauschens schuldunfähig gewesen wäre (zum Beispiel wegen Geisteskrankheit): Dann bliebe überhaupt keine Schuld übrig. Klingt schwierig und ist es auch, aber in sich folgerichtig. Es muss von Jugendrichtern und sollte von Journalisten beherrscht werden, die informieren und nicht nur Stimmungen verbreiten möchten.
Eingeschränkt schuldfähig
Eine letzte Komplizierung: Volle Schuldunfähigkeit wegen Alkoholisierung ist relativ selten; man wird sehen, was im Würzburger Fall in der Berufung herauskommt. Im Bereich des § 21 ("eingeschränkte Schuldfähigkeit") tritt eine Relativierung ein: § 21 Abs. 2 lässt eine Milderung des Strafrahmens nach bestimmten Abstufungen (siehe § 49) zu, schreibt sie aber nicht zwingend vor. Hier hat in den vergangenen Jahren eine Änderung der Rechtsprechung des BGH stattgefunden: Früher wurde fast immer gemildert, was ungerecht milde war. In der ehemaligen DDR wurde nie gemildert (§ 15 StGB-DDR), was ungerecht hart war, denn manche Betrunkene sind eben nicht "schuld". Heute vertritt der BGH die Linie, dass bei "selbst verschuldeter Trunkenheit" in aller Regel keine Milderung erfolgt. Das war auch beim BGH umstritten, ist aber im Prinzip (folge)richtig. Allerdings ist es nicht zu Ende gedacht und daher wiederum ungerecht: Wer alkoholisiert "eingeschränkt schuldfähig" eine fahrlässige Tötung begeht, wird nach § 222 mit bis zu fünf Jahren bestraft. Wer sich so zusäuft, dass er ganz schuldunfähig ist, wird nach § 323a mit höchstens fünf Jahren bestraft, auch wenn er eine Tötung vorsätzlich begeht. Das kann man zwar noch "erklären", muss es aber nicht gut finden. Erst recht merkwürdig wäre es, wenn die Höchststrafe für fahrlässige Tötung, wie vielfach gefordert wird, erhöht würde. Es zeigt, was herauskommt, wenn "Löcher" und "Lücken" geflickt werden, um immer noch ein Stückchen "Gerechtigkeit" für einzelne Fallgruppen einzufügen: Am Ende passt der ganze Anzug nicht mehr.
Der Einzelfall
Das Urteil von Würzburg ist nicht rechtskräftig; Staatsanwaltschaft und Nebenkläger haben es mit der Berufung angefochten, über die das Landgericht entscheiden wird. Zu Einzelheiten des Sachverhalts wie die (noch gar nicht vorliegenden) Strafzumessungsgründe kann und sollte man öffentlich nichts sagen. Das Empörungsgeschrei "des Netzes" und "der Medien" ist wohlfeil, sensationsgeil und voyeuristisch.
Es kann sein, dass das Amtsgericht einen Rechtsfehler gemacht hat; das kann man aufgrund der Presseberichte aber nicht beurteilen. Die zitierten mündlichen Begründungen waren teilweise ungewöhnlich und wirr. Sollte der Vorsitzende tatsächlich das Gesetz als solches und die Rechtsordnung herabgewürdigt haben, um sich selbst als Sprachrohr "des Volkes" und des gesunden Rechtsempfindens in die Empörung gegen sein eigenes Urteil einzureihen, wäre das eine peinliche Aufführung.
Es ist wie fast immer: Das Unrecht wird durch bloße Empörung nicht größer und das Unglück nicht kleiner. Man muss sich mit den Dingen ernsthaft befassen und die Zusammenhänge der Regeln zu verstehen versuchen, nach denen man im Ernstfall selbst behandelt werden möchte. Gesetzgeber und Gerichte machen Fehler, aber sie sind nicht von vornherein blöd, ungerecht oder volksfern.
Anmerkung: In einer früheren Version hieß es, dass in der Presse regelmäßig nur die Summe aus Tagessatzzahl und Tagessatzhöhe mitgeteilt werde. Tatsächlich ist das Produkt gemeint. Die entsprechende Stelle wurde korrigiert.
Quelle: Spiegel Online