Die Häufigkeit und Schwere psychischer Erkrankungen bei Häftlingen nimmt zu, schreibt das bayerische Justizministerium auf BR-Anfrage. Der Freistaat sieht sich zwar ausreichend aufgestellt mit Fachpersonal. Doch Suizide konnten auch bayerische Haftanstalten nicht vollständig verhindern. 2022 töteten sich 16 Häftlinge selbst, 2021 waren es 17.
Ein Beispiel aus der JVA Aichach: Hier hat sich im Mai 2021 die 32-jährige Valdete M. suizidiert. Fast fünf Monate hatte sie in U-Haft gesessen, als mutmaßliche Terrorunterstützerin. Sie soll 2018 insgesamt 460 Euro an eine Al-Kaida-nahe Organisation in Syrien gespendet haben.
U-Haft belastend
Seine Mandantin sei ein kleiner Fisch gewesen, sagt Anwalt Adam Ahmed. Die Unterstützungshandlung von insgesamt 460 Euro sei "mehr als überschaubar“ gewesen, so Ahmed. "Infolgedessen haben wir uns auch von Anfang an gegen die Festnahme und auch gegen die Untersuchungshaft mit den rechtlichen Möglichkeiten, die es in der Strafprozessordnung gibt, zur Wehr gesetzt."
Ahmed wirkt wütend. Er wirft der Anstalt vor, dass sie nicht gut genug auf Valdete M. aufgepasst hat. Aus ihrem Umfeld erfährt der BR, dass sie schon vor ihrer Haft psychische Probleme hatte.
Häftlinge oft psychisch krank
Das Justizministerium stellt auf Anfrage klar, dass alles getan wird, um Suizide zu verhindern. Schon beim Eintreffen der Häftlinge in der Anstalt werde überprüft, ob Suizidgefahr bestünde.
Trotzdem sehen Fachleute erheblichen Nachholbedarf. Prof. Dr. Johannes Fuß war fünf Jahre lang Gefängnispsychiater. Jetzt leitet er das Institut für forensische Psychiatrie und Sexualforschung am LVR-Uniklinikum Essen. Fuß beruft sich auf Studien, die belegen, dass 86 Prozent der Gefängnis-Insassen schon einmal eine psychiatrische Erkrankung hatten. Aber in deutschen Gefängnissen sei das noch nicht angekommen, kritisiert Fuß. Das habe Folgen für die psychisch kranken Menschen. Sie würden "nur verwahrt und manchmal über Monate ihrer Erkrankung überlassen".
Studie des Europarats
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine deutschlandweite Untersuchung des Europarats. Mitglieder des sogenannten Anti-Folter-Komitees besuchten 18 Einrichtungen in Deutschland – auch in Bayern. Darunter waren Haftanstalten und forensische Einrichtungen. Die Ergebnisse wurden im Herbst 2022 veröffentlicht. Ein Kritikpunkt: Es sei oft nicht möglich, Insassen von einem normalen Gefängnis in geeignete psychiatrische Einrichtungen zu verlegen.
Oft nur externe Psychiater verfügbar
Die Folge kennt auch Psychiatrie-Professor Johannes Fuß aus seiner Tätigkeit als Gefängnispsychiater: Wer suizidgefährdet sei, werde häufig in speziellen Räumen isoliert und per Video überwacht. "Da gibt's nicht mal mehr einen Tisch im Raum, nur noch eine Turnmatte und eine Decke", beschreibt Fuß die Ausstattung der entsprechenden Räume, "da geht's einem nicht unmittelbar besser".
Oft müssten Haftanstalten bei Suizidgefahr auf externe Psychiater zurückgreifen, so Fuß. Manche seien erst nach Tagen verfügbar.
Lösung durch Telemedizin?
Die Länder haben das Problem, psychiatrisches Fachpersonal zu finden. So versuchen unter anderem Bayern und Nordrhein-Westfalen, therapeutische Lücken mit Hilfe externer Dienstleister zu schließen, die Häftlinge per Video psychiatrisch behandeln. Kritik kommt von Johannes Fuß. Menschen, die etwa an einer Psychose, an Wahnvorstellungen litten, bräuchten kein Tablet in die Hand gedrückt, um mit einem Psychiater zu sprechen, der gerade in seiner eigenen Praxis sitze. "So verzweifelt ist die Lage im Moment, dass man das schon als Lösung an manchen Orten feiert. Das bringt uns keine Lösung hinsichtlich der schwer erkrankten Menschen. Die brauchen vor Ort Personal, das mit ihnen sprechen kann."
Nach Suizidversuch in Einzelzelle
Valdete M. wurde nach einem Suizidversuch in die vollzugspsychiatrische Abteilung der JVA Würzburg verlegt: Mehr als zwei Wochen später kam sie zurück in die U-Haft nach Aichach. Diagnose: "ohne auffälligen Befund". Auch führte sie mit dem Psychologen der Anstalt in Aichach ein Gespräch. Dieser stufte sie als einzelhaftfähig ein. Anwalt Ahmed hat dafür kein Verständnis. Es erschließe sich ihm nicht, "warum jemand, der ganz aktuell als so hoch suizidgefährdet eingestuft wurde, warum man die Person dann so unbeobachtet in einen Raum steckt". Außerdem seien seiner Mandantin aufmunternde Briefe "aus denen hervorgeht, dass ich entsprechende Anträge gestellt und für meine Mandantin kämpfe" nicht zugestellt, sondern ungeöffnet an ihn zurückgeschickt worden, sagt der Anwalt. Die JVA Aichach bestreitet dies.
Am Ende hinterließ Valdete M. einen Brief, den sie einer Mitgefangenen übergab und der sich später als Abschiedsbrief herausstellte. Auch weil sie kein Vertrauen zu den Gefängnismitarbeitern hatte?
Die JVA Aichach betont, dass die Angestellten regelmäßig fortgebildet und sensibilisiert würden, um Suizide zu verhindern. Nach Angaben des Justizministeriums waren zum Stichtag 31. Dezember 2021 bayernweit 124 Psychologinnen und Psychologen in Haftanstalten beschäftigt. Hinzu kommen 45 Ärzte. Der Freistaat hat mit Straubing und Würzburg zwei Justizvollzugsanstalten, in denen sich psychiatrische Abteilungen befinden. Eine Dritte soll in der JVA München entstehen.
Gefängnispsychiater dringend gesucht
124 Psychologen und 45 Ärzte in bayerischen Gefängnissen bei mehr als 9.000 Insassen – reicht das? Das Ministerium räumt ein, dass der Fachkräftemangel auch vor den Anstalten nicht Halt mache und es dementsprechend schwierig sei, geeignete Psychiater zu finden.
Wolle man mehr Fachkräfte, müssten sie viel besser bezahlt werden, sagt Psychiater Fuß. Und es gehe auch darum, den Resozialisierungsgedanken in den Vordergrund zu rücken. Denn bei schwer psychisch Erkrankten klappe auch die Resozialisierung nicht: "Wir müssen uns als Erstes um die psychische Gesundheit kümmern, investieren am Anfang in Aufnahmegespräche und investieren am Anfang auch in engmaschige Therapie, wenn sie notwendig ist. Das ist aber aktuell nicht der Fall. Das wird meines Wissens in keiner Anstalt in Deutschland so gedacht."
Und so hätten die Bundesländer noch einen weiten Weg vor sich, wenn sie den Umgang mit psychisch Erkrankten im Gefängnis verbessern wollen, findet Fuß.
Der Bayerische Rundfunk berichtet - vor allem wegen möglicher Nachahmer-Effekte - in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche, außer die zuständige Redaktion sieht es durch die Umstände der Tat geboten. Sollten Sie selbst Hilfe benötigen, kontaktieren Sie bitte umgehend den Bayerischen Krisendienst unter der Notrufnummer 0800-6553000 oder die Telefonseelsorge unter Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222. Weitere Hilfsangebote gibt es bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
Quelle: BR24
Antworten 2
Cassidy
Ein interessanter Artikel. Mein Partner kam damals nach psychotischen Episoden im OV erst in eine Klinik, dann zurück in den GV in eine Kamerazelle wegen Suizidgefahr. Das schwierigste war damals, dass er zwei Monate nicht telefonieren und keine Briefe schreiben durfte. Danach kam er in ein JVA Krankenhaus zur Diagnose, also vier Monate nach der Episode. Die Psychiaterin dort war aber top, hat die richtigen Medikamente für ihn gefunden und er durfte vier Wochen später wieder zurück in den GV und konnte drei Monate später entlassen werden.
Aber: die Betreuung außerhalb der JVA ist nicht besser. Er hat zwar eine Psychiaterin, mit der er auch einen guten Medikamentenplan aufgestellt hat, aber er wartet seit zwei Jahren auf einen Therapieplatz. Als er vor einigen Monaten suizidale Gedanken hatte und in das BKH am Ort gefahren ist, um sich einweisen zu lassen, haben sie ihn wieder nach Hause geschickt, da kein Platz mehr frei sei. Es war Samstag Abend und der Arzt meinte, er solle das am Montag ambulant mit seiner Psychiaterin machen.
Was ich damit sagen möchte, ist, dass die psychologische Betreuung innerhalb der Jva sicherlich zu wünschen übrig lässt, die Inhaftierten meiner Ansicht nach danach aber auch wenig Möglichkeiten haben, sich Hilfe zu holen.
Kunterbunt
Nicht nur ehemalige Häftlinge haben es schwer, sich psychologische oder psychiatrische Hilfe nach der Haft zu suchen.
Es gibt generell eine Unterversorgung psychisch kranker. Therapieplätze oft nur nach jahrelanger Warteliste, wenn überhaupt eine Warteliste geführt wird, und auch auf Plätze in Kliniken muss man oft sehr lange warten.
Ich bin psychisch krank und war es auch bereits vor der Haft. Ich hatte davor einen Therapieplatz, aber auch jetzt danach. Allerdings nur, weil ich ihn selbst aus eigener Tasche finanziere – bei der Krankenkasse habe ich den Höchstsatz an Stunden erreicht.
Aufgrund der bestehenden Erkrankung habe ich meine U-Haft komplett in einem JVK verbracht. Natürlich war das alles nicht optimal und ja, es gibt viel Nachholbedarf. Für viele ist es ein Schock, wenn sie in eine JVA kommen und plötzlich ist alles anders, die Freiheit ist weg, Kontakte nur noch eingeschränkt usw.
Ich sehe aber bei der Versorgung psychisch Erkrankter prinzipiell viel Nachholbedarf. Nicht nur in der JVA.